Das trifft ja nicht nur auf die kleinen Sorgenetze der Familien und Nachbarschaften zu, das (über-)fordert ja auch die aktuellen gesellschaftlichen Vorstellungen und Strukturen. Menschen in der Praxis, die häufiger Umgang mit Menschen mit Demenz haben, werden entgegnen, dass noch eine ganze Menge geht, dass es mal mehr, mal weniger gut geht und dass gerade die palliative Sorge in den vergangenen Jahren erfolgreich große Anstrengungen unternommen hat, die Menschen mit Demenz mit mehr Respekt zu behandeln, ihren Bedürfnissen besser zu entsprechen und tragfähigere Sorgestrukturen geschaffen zu haben – und daran kontinuierlich weitergearbeitet wird. Das ist richtig und dankbar anzuerkennen. Und doch möchte ich es nicht bei dieser Beruhigung bewenden lassen. Der Riss zwischen uns ist sehr viel tiefer, als wir es uns eingestehen mögen, er überfordert uns in einer Weise, der wir mit allen guten Werken nicht entsprechen können. Das Fremde, das uns im Menschen mit Demenz gegenübertritt, lässt sich nicht in Eigenes, Bekanntes umarbeiten, das uns als Gerechtfertigte, als solche, die fertig sind mit der Frage nach dem Richtigen und Gerechten, aus der Begegnung kommen ließe. Unser Wissen, unser technisches Vermögen, sie reichen nicht zu, um diese Begegnung wie ein Problem zu lösen.
Wechselseitige Ansprüche
Diese Frage nach dem „Wie werde ich beziehungsweise wie werden wir den Menschen mit Demenz gerecht?“ bohrt – vermutlich – in uns gesunden Menschen stärker, und sie geht über Vorstellungen einer allgemeinen Gerechtigkeit hinaus. Da könnte mein Gegenüber als der Andere seine Rechte geltend machen. Da träfen wechselseitige Ansprüche aufeinander, die durch ein Drittes, die Gerechtigkeit, das Recht, die regelbasierte Ordnung oder Ähnliches vermittelt werden könnte. Aber mein Gegenüber mit Demenz ist nicht nur anders, sondern fremd und begegnet mir nicht auf einer Ebene symmetrischer Rechte, sondern fordert mich zur Begegnung in weitgehender Regellosigkeit (oder nach für mich nicht erkennbaren Regeln). Der Appell an eine allgemeine Vernunft fruchtet nichts, die Erinnerung an eine gemeinsame Geschichte fällt ins Leere, die Suche nach dem gemeinsamen Nenner – und sei er noch so klein – verläuft sich.
Was sollen wir tun, wenn alle Normalität, alle Ordnung, aller guter Wille und alle guten Worte sinnlos bleiben im Blick auf eine gemeinsame Verständigung, gemeinsame Entscheidungen, ein gemeinsames Handeln? Wie kann ich als Einzelner dem konkreten Menschen mit Demenz gerecht werden? Wie schaffen wir das als Gesellschaft angesichts der Statistiken und Prognosen zu einem enorm wachsenden Sorgebedarf? Beunruhigen will dieser Artikel nicht, um der bereits bestehenden enormen Anforderung noch weitere Lasten hinzuzufügen und Frustration zu fördern. Aber vielleicht könnte für uns Menschen, die wir uns um die Menschen mit Demenz in irgendeiner Weise kümmern und sorgen, eine gewisse Beunruhigung heilsam sein. Sie hat mit den Bildern von Gesundheit und Krankheit, von Anormalität und Normalität, von Ordnung und Unordnung zu tun, die uns – mal ausgesprochen, mal implizit – leiten. Der Schriftsteller Arno Geiger hat es in seinen Reflexionen zur Demenz seines Vaters, die sich später zu einem weit über die Demenz-Community hinaus strahlenden Buch Der alte König in seinem Exil verdichtet haben, so beschrieben: „Dabei fällt mir ein, was Carl Einstein geschrieben hat, dass die materielle Welt und unsere Vorstellung sich nie decken. Das beschäftigt mich eine Weile, denn genaugenommen steckt in diesem Gedanken auch für mich etwas Grundlegendes, weil damit eine der Ursachen benannt ist, weshalb ich zum Schreiben gekommen bin, all die kleinen Unstimmigkeiten und Befremdlichkeiten, die Verschiebungen, Irritationen, Schreckmomente, kleinen Niederlagen und seltsamen Freuden, die mich von Kind auf begleiten und mich beinahe täglich denken lassen: Seltsam, die Dinge machen den Eindruck, als wären sie normal, harmlos und einfach zu durchschauen, und doch, etwas stimmt nicht mit ihnen. Mir kommt vor, mein Schreiben ist zu einem Gutteil das Ergebnis dieser Erfahrung, ein Erzählen und Nachdenken im kleinen Grenzverkehr zwischen Nicht-Verstehen, Verstehen-Wollen und Trotzdem-nicht-Verstehen. Ein Pendeln zwischen materieller Welt und Vorstellung, zwischen Stoff und Wort, ein Anrennen gegen eine Welt, die sich nur selten auf eine stabile Bedeutung und einen klaren Sinn festlegen lässt und stattdessen mit beklemmender Beharrlichkeit paradox, unbegreiflich und unnahbar bleibt.“
Nicht Verstehen, Verstehen-Wollen und Trotzdem-nicht-Verstehen: Vermutlich beschreibt dieser Dreiklang recht gut den Riss, der sich zwischen den Menschen mit Demenz und den Anderen auftut. Mit dieser Einteilung beruhigen wir Verständigen uns vielleicht allzu leicht und sichern unsere Welt gegenüber dem und den Unverständigen, Unzuverlässigen, Unzumutbaren ab. Aber dürfen wir uns mit dieser Einteilung zufriedengeben? „Seltsam, die Dinge machen den Eindruck, als wären sie normal, harmlos und einfach zu durchschauen, und doch, etwas stimmt nicht mit ihnen.“ Es sind eben nicht nur die Menschen mit Demenz, die ab einem gewissen Grad ihrer Krankheit für uns gesunde Menschen unzugänglich, unverständlich erscheinen. Ließen wir die Sicherungen mal beiseite, käme beunruhigender Weise zum Vorschein, dass es mehr Dinge und Lebewesen sind, die sich unserem Verstehenwollen entziehen.